Samstag, 23. Juni 2018

Zufallsfund am Markt

Ich habe mich inzwischen an das frühe Aufstehen gewöhnt und da ich ohnehin schon um 5:30 Uhr wach bin, nutze ich halt die Gunst der Stunde und beginne mit den Abreisevorbereitungen. Ich öffne das Fenster weit und bitte die frische Luft der Morgendämmerung herein. Mein Schwerpunkt liegt beim systematischen Verpacken meiner Ausrüstung in den Rucksack. Etwas später ist such die Zeit da, noch einmal unter die Dusche zu gehen.
Kurz vor 7:30 Uhr verstaue ich den Rucksack in einem Schließfach und begebe mich völlig entspannt zur  Kathedrale. Um 8:00 Uhr beginnt dort in der Capilla de Cristo de Burgos deutschsprachige Gottesdienst, der für mich der Abschluss der diesjährigen Pilgerwanderung sein wird. Vorher besuche ich noch einmal Jakobus am Hochaltar und in der Krypta. Nach dem Gottesdienst gehe ich traditionell in die gegenüber liegende Hospederia Seminario Mayor San Martin zum Frühstück. Für 6 € bekommt man dort ein reichhaltiges und gutes Frühstück, dass ich auch immer wieder gerne mitnehme. Es ist jetzt gerade um 10:00 Uhr herum und so langsam beginnt das Leben auf der Praza de Obradoiro vor der Kathedrale, wo ich mich an einer Säule des Verwaltungsgebäudes hinsetze. Ich habe dort schon so manche Stunde verbracht und habe all die Menschen beobachtet, die hier ihren Camino beendet haben. Es macht einfach Spaß, die Menschen bei ihrem Ankommen zu sehen,  wie sie reagieren, wie sie feiern , wie sie sich freuen. Man sieht aber auch oft genug Trauer und Schmerz in den Gesichtern.
Nachdem ich fast zwei Stunden lang auf dem Platz verbracht habe,  mache ich mich auf den Weg zu den Markthallen, die auch immer zu einer Bummelei einladen. Dabei fällt mir zufällig in der Auslage ein Körbchen mit selbst bemalten Jakobsmuscheln auf. Das ist eine Überraschung, damit hätte ich hier überhaupt nicht gerechnet. Eine gefällt mir besonders. Sie ist sehr einfach gehalten, passt daher sehr gut zum Camino Primitivo und ist  mein diesjähriges Pilgerzeichen. Die Muschel, die ich bereits gestern gekauft hatte, ist zwar auch sehr schön, aber war von Beginn an "nur" ein Kompromiss. Außerdem habe ich auf dem Markt noch die gute Orangen-Schokolade gekauft, die ich als Mitbringsel mit nach Hause nehmen werde.
Dann mache ich mich allmählich wieder zur Herberge auf, um meinen Rucksack abzuholen.
Unterwegs mache ich noch einen  Boxenstopp in der Bar Bicoca und genehmige mir als Finish ein leckeres Super Bock. Um 13:15 Uhr habe ich meinen Rucksack auf den Schultern und laufe die knapp 1,5 Kilometer bis zum Busbahnhof. Ich muss auch nur zehn Minuten warten, dann kommt auch schon mein Bus, der pünktlich um 13:50 Uhr in Richtung Flughafen abfährt.
Einchecken und Sicherheitskontrolle verlaufen entspannt, da noch nicht viel los. Kurz vor dem Boarding passiert dann doch noch etwas Unerwartetes: ich treffe Walter aus unseren Pilgerforum, der am Pfingstmontag auf dem Camino Frances gestartet ist. Der Flug wird heute planmäßig um 16:55 Uhr in Santiago raus und landet um 19:15 Uhr auf dem Flughafen Hahn, wo ich von Susanne abgeholt werde.

Freitag, 22. Juni 2018

Ein letzter Stempel

12. Etappe: Monte do Gozo - Santiago de Compostela (5,2 km, 1:05 Std)
Der letzte Pilgertag bricht an. Gegen 6:00 Uhr werde ich durch das unruhige Verhalten von anderen Pilgern außerhalb unseres Zimmers allmählich wach. Ich beschließe, dann halt aufzustehen und nicht zwanghaft im Bett zu bleiben. Da ich am gestrigen Abend schon meinen Rucksack bereits verpackt hatte, greife ich ihn mir, verlasse den Schlafraum und mache mich im Aufenthaltsraum in Ruhe fertig. Heute verpacke ich auch meine Stöcke, die ich auf den letzten fünf Kilometern nicht mehr benötigen werde. Um 6:40 Uhr verlasse ich die Herberge und marschiere ganz langsam den Berg hinab in das gerade erwachende Santiago.
Ich bin wieder einmal alleine unterwegs, was mir eigentlich sehr gut gefällt. Einige Mitpilger sind bereits früher losgegangen, aber ich bin ganz froh, dass ich ungestört die letzten Schritte mit meinen eigenen Gedanken machen kann. Lediglich das Morgenkonzert der Vögel begleitet mich, wird aber fließend vom Lärm von Autos abgelöst. Den kann ich aber einigermaßen ausblenden, um mich auf das für mich Wesentliche, nämlich das Ankommen in der Jakobus-Stadt, konzentrieren kann.
Selbstverständlich ist es ein gewaltiger Unterschied im Vergleich zu den vergangenen zwei Wochen, durch die vorgelagerten Ansiedlungen einer Großstadt zu gehen. Von der Natur ist jetzt nicht mehr allzu viel zu sehen, dafür die ersten Häuser der Vororte, deren Dichte immer mehr zunimmt.
Ich bin heute auf den letzten Kilometern genauso aufgeregt, wie bei meinen ersten drei Ankünften. Es gibt ja viele Pilger, die genau das Gegenteil behaupten, dass ein wiederholtes Ankommen in Santiago nicht so emotional ist, wie beim ersten Mal. Ich sehe das ein klein wenig anders. Ich war immer sehr bewegt, wenn ich mich auf der Praza de Obradoiro vor die Kathedrale gesetzt habe. Es liegt vielleicht auch einfach daran, mit welchen Erwartungen man auf seinen Camino geht. Ich habe in den letzten Jahren festgestellt, dass jeder Camino komplett anders gewesen ist und damit auch jedes Ankommen ein anderes war. Ich sehe die Umstände des Weges, das Erlebte, das Verarbeitete, die Menschen des Weges, das Wetter und die Natur -  all das trägt dazu bei, wie ich das Ankommen empfinde.
In den Boden eingelassen Bronze-Muscheln weisen nun den Weg in Richtung Zentrum. Aus östlicher Richtung bin ich noch nie nach  Santiago gelaufen. Bisher kam ich über den Camino Inglés aus dem Norden und über den Camino Portugues aus dem Süden. Mir gefällt dieses Ende des Camino Primitivo jedenfalls deutlich besser. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass zu dieser Uhrzeit noch nicht allzu viel los ist? Nein, ich glaube nicht.
Ich bin jedenfalls froh und dankbar, dass ich diesen Camino gehen durfte, ihn auch ohne großartige Blessuren gut hinbekommen habe. Ganz besonders bedanke ich mich bei Susanne und Christian, die mir diese zwei Wochen geschenkt haben. Ich freue mich, morgen wieder nach Hause zu kommen.
Wenn ich einmal zurückblicke auf die letzten vierzehn Tage, habe ich in diesem Jahr nicht so sehr viele Leute kennengelernt. Die Gespräche mit ihnen waren immer sehr offen und herzlich. Marcel bedaure ich ein wenig, da er es mit mir und den Verständigungsproblemen  sicherlich nicht einfach gehabt hat. Und doch ist er immer wieder auf mich zugekommen, das rechne ich ihm sehr hoch an.
Ich habe aber auch die Zeit mit mir alleine genossen. Ich glaube, damit hat auch der Camino Primitivo, der ursprüngliche Weg, mit seinen großartigen Naturlandschaften, den urigen Dörfern und der Gastfreundschaft der Menschen ihren Sinn erfüllt. Dieser Camino wird allerdings auch als der verlustreichste meiner Jakobswege in die Geschichte eingehen. Neben einem Handy, einer Sportunterhose sowie einer Handytasche habe ich gestern auch noch ein Mehrzwecktuch in der Herberge liegen gelassen. Ich müsste einmal darüber nachdenken, das Gewicht meiner Ausrüstung anderweitig zu reduzieren als durch verlorene Gegenstände. 
Die Zeit vergeht wie im Flug und so treffe ich mit feuchten Augen um 7:45 Uhr auf der noch fast leeren Praza de Obradoiro vor der Kathedrale ein. Ich bin total begeistert, wie die Front der Kirche inzwischen aussieht, hier ist im vergangenen Jahr richtig tolle Arbeit bei der Sanierung geleistet worden. Es stehen kaum noch Gerüste und das Mauerwerk sieht aus wie neu.
Ich gehe nach einem ersten Dankgebet vor der Kathedrale direkt zum Pilgerbüro, wo ich in der kurzen Schlange Tatjana treffe. Um 8:20 Uhr halte ich bereits meine Compostela in der Hand. Im vergangen Jahr kam ich erst am Nachmittag an und musste fast neunzig Minute warten, bis ich dran kam.
Meinen Rucksack möchte ich gerne in meiner Unterkunft, dem Seminario Menor, abgeben, darf sogar schon um 9:30 Uhr mein Zimmer beziehen. Das ist natürlich toll.
Als nächstes steht der Pilgergottesdienst um 12:00 Uhr auf dem Plan. Auf dem Weg zur Kathedrale begegnet mir ein japanisches Ehepaar, das schon seit Tagen immer wieder in den gleiche  Herbergen wie ich übernachtet hat. In der Stadt treffe ich Marcel, der bereits gestern in Santiago ankam. Gestern hatte er ein Zimmer in unmittelbarer Nähe zur Kathedrale, heute ist ebenfalls, wie auch die Japaner, im Seminario Menor untergebracht.
Wir verabreden uns zum Mittagessen nach dem Ende des Gottesdienstes. Diesem kann ich in diesem Jahr nicht so folgen wie sonst, weil mir heute komischerweise die ganzen Touristen, die während des Gottesdienstes umherlaufen ziemlich auf den Nerv gehen. Deswegen setzt ich mich in die Marienkapelle, in der ich eine Weile alleine sein kann. Ich erlebe jedoch noch das Schwenken des Botafumeiro - wie jedesmal bei meinen Besuchen der Pilgermesse. Und wie jedesmal werden hunderte Handys geschwenkt...
Das Mittagessen neben Marcel und ich in der Mensa der medizinischen Fakultät der Uni von Santiago ein, wo wir für nur 5,70 € ein leckeres Menü bekommen. Danach trennen wir uns, da Marcel ins Seminario umziehen und ich noch etwas durch die Stadt bummeln möchte. Dabei treffe dich ich unterwegs noch Dave und Gonzalo, mit denen ich noch ein wenig plaudere. Danach ziehe ich mich noch etwas auf mein Zimmer zurück, um mich auszuruhen.
Am Abend mache ich noch einen Zug durch die Gemeinde, denn es ist San Xoan - Johannesfest. Da wird die Nacht in Santiago zum Tag. Allerdings wohl noch nicht heute. Es ist zwar mächtig was los, aber noch nicht so, wie ich es in Erinnerung habe. An vereinzelten Punkten konzentrieren sich die Aktionen heute. An einem solchen bestelle ich mir mein Abendessen - Pulpo und Piementos de Padrón. Danach gehe ich ein wenig durch die Gassen, schaue mir noch die Iglesia Santa Maria Salome aus dem 12. Jahrhundert an und schlenderte zur Kathedrale. Gerade geht die Sonne unter und läßt die Fassade beinahe golden erstrahlen. Und dann läuft mir Jammar über den Weg. Obwohl wir uns nur einmal intensiv in Berducedo unterhalten und nochmal sporadisch gesehen haben, ist die Wiedersehensfreude beiderseits groß. Wir haben und viel zu erzählen, und wird erneut ein großartiges, sehr offenes Gespräch zwischen uns beiden. Es war toll, ihn noch einmal gesehen zuhaben. Wir verabschieden uns sehr herzlich voneinander und bleiben in Kontakt. Direkt nebenan spielt seit einiger Zeit eine Gruppe baltische Folklore und hat die Zuhörer fest im Bann. Ach ich verbleibe noch eine Weile und sauge die positive Stimmung auf. Auf dem Weg zur Herberge laufe ich an der Rua de San Pedro entlang, wo moch Live-Musik die Menschen unterhält. 

Donnerstag, 21. Juni 2018

Heute ein Pilgerkönig

11. Etappe: Arzúa - Monte de Gozo (36 km, 8:20 Std)
Heute morgen bin ich sehr früh wach geworden und mache mich dann auch schon fertig. Um 6:45 Uhr bin ich auf der Straße. Es ist eigentlich unglaublich, wie viele Menschen sich bereits in Bewegung gesetzt haben. Vor mir zieht sich eine lange  Pilgerschlange her, die durchaus mit einer Volkswanderung vergleichbar ist. Bei der ersten Bar in  Pregontoño hole ich mir sichheitshalber den ersten Stempel für heute, aber zum Frühstück lasse ich noch etwas Zeit.
Der Weg führt heute zum Glück zunächst nicht so häufig über Straßen, sondern eher auf noch recht kühlen Wald- und Wiesenwegen. Mich wundert allerdings inzwischen, dass die Menschenmassen spurlos verschwunden sind. Ich bin auf einmal ganz alleine und muss eben mal prüfen, ob ich überhaupt noch richtig bin oder mich verlaufen habe.
Im Gegenteil zu den vergangenen Tagen kommt die Sonne kommt heute bereits sehr früh raus und es gibt keinen Nebel. Dafür sind wieder Temperaturen von über 25 Grad angesagt.
Nach circa acht Kilometern mache ich an der Bar Lino in Calle meine Frühstückspause mit einem Café con leche und einem Riesenboccadillo mit Seranoschinken und Käse.
Danach geht der Camino weiter über nett angelegte, meist im Schatten von Bäumen befindliche Wanderwege. Inzwischen habe ich die Befürchtung, dass die  Privatbrauerei Erding zum Sponsor des Jakobweges geworden ist, denn fast jede Bar hat ein  entsprechendes Werbeschild für Weißbier.
Um 10:15 Uhr und weiteren acht Kilometern ist die nächste Pause fällig. Ich habe mir heute vorgestellt, regelmäßig Pausen einzulegen, was ich die bisherigen Tage eigentlich nie gemacht habe. Um diese Uhrzeit darf es auch wieder ein isotonisches, alkoholfreies Getränk sein. Heute isz mal zur Abwechslung ein portugiesisches Super Bock Negra. Jetzt fangen die Portugiesen auch schon an, Schwarzbier zu brauen. Als ich mir dann noch den Stempel des Hauses in das Credencial drücke, fällt mir auf, dass ich nicht mehr allzu viel Platz darin habe. Es reicht gerade noch für zwei bis drei Stempel. Ich muss zumindest Platz lassen für den heutigen Herbergsstempel und den letzten Stempel im Pilgerbüro morgen. Nach zwanzig Minuten Beine hochlegen geht es wieder weiter.  Kurz vor der Herberge von Santa Irene muss ich noch einmal einen außerplanmäßigen Boxenstopp einlegen, denn irgendetwas stimmt mit meinem Socken nicht. Ich tausche sie mal schnell gegen trockene aus.
Die nächsten Kilometer sind richtig angenehm. Es geht immer in der Nähe der Hauptstraße nach Santiago entlang, aber in gebührendem Abstand, durch Eukalyptuswälder und kleine Dörfer. Das macht richtig Spaß und lenkt davon ab, dass ich mich meinem Pilgerziel unaufhaltsam nähere. Nach knapp 24 Kilometern ist die  nächste planmäßige Pause fällig. Diese Ort war richtig gut gewählt , denn im weiteren Verlauf des Camino gibt es einen Anstieg, der mir allerdings mit dem Training der letzten Tage nichts ausmacht. Ich bin jetzt auch in unmittelbarer Nähe  des Flughafens von Santiago, wo gerade ein Flugzeug startet. 
Inzwischen sehe ich nur noch sehr selten Pilger in meiner Umgebung.  Entweder sitzen die alle zur Mittagszeit in irgendeiner Bar oder sie haben sich bereits in einer Herberge niedergelassen. Lediglich ein paar Fahrradpilger kommen öfters an mir vorbei.
Am Ende des Anstieg es erreiche  ich einen mobilen Verkaufstand  und treffe auch Marcel wieder. Er erzählt mir zum wiederholten Male von seinem Haus in der Bretagne,  das er mir gerne für einen Urlaub zur Verfügung stellen würde. Er will  sich per Email bei mir melden.  Während ich heute "nur" bis zum  Monte do Gozo laufe, wird er bereits den kompletten Weg nach Santiago gehen. Ich bin zwar auch schon die ganze Zeit am überlegen, ob ich ihm nicht gleich tun solle, aber die Nacht am Monte do Gozo möchte ich gerne nutzen, um mich mental auf das letzte Stückchen von rund fünf Kilometern vorzubereiten. Mein Plan ist es, morgen früh so zeitig loszugehen, um zur Öffnungszeit des Pilgerbüros um 8:00 Uhr dort zu sein um meine Compostela abzuholen. Eventuell schließe ich schon vorher meinen Rucksack in der Herberge ein.
Auf Höhe des Flughafens treffe ich Gabriel, einen jungen mexikanischen Pfarrer und wir machen an der Santiago-Skulptur gegenseitig Fotos von uns.
In San Paio hole ich mir in der Kirche noch einen Stempel ab. Danach wird es noch einmal hügelig und vor allem sehr zäh und öde. Der Camino lässt mich gefühlt unendlich lange über Nebenstraßen in der prallen Sonne laufen. Endlich erreiche den Monte do Gozo - den Berg der Freude. Der Name kommt von den mittelalterlichen Pilgern, die ihre Freude über den ersten Blick auf die Kathedrale von Santiago ausdrückten. Um 15:15 Uhr erreiche ich als achtzehnter für heute die öffentliche Herberge. Später treffe ich dort noch einmal Gabriel. Die Herberge ist in einem riesigen Unterkunftskomplex verortet ist, der zum Weltjugendtag 1989 in Santiago entstand. Von den rund 3000 Betten deren derzeit maximal vierhundert für Pilger genutzt. Der Rest einschließlich Restaurants etc. befinden sich in einem Dornröschenschlaf.
Entgegen aller Veröffentlichungen gibt für Pilger weder Speisen noch Getränke, auch nicht aus Automaten, zu kaufen. Nach dem Besuch des Pilgerdenkmals - ich durfte mich übrigens traditionell zum Pilgerkönig ausrufen, da ich der erste aus meiner Pilgergruppe war, der vom Monte do Gozo dir Kathedrale erblickte - und dem Monument zum Andenken an den Besuch von Papst Johannes Paul II. zum Weltjugendtag will ich einem etwa zehn Minuten entfernt liegenden Restaurant etwas essen, bekomme aber an einem Kiosk an der San Marcos-Kapelle ein warmes Baguette und etwas zum Trinken für kleines Geld.
Am Abend werde ich es nicht spät werden lassen. Um 19:30 Uhr nehme ich am Gottesdienst in der Kapelle teil, bei dem Gabriel konzelebrieren darf. Ich habe die Ehre, eine Fürbitte auf Deutsch vorzutragen. Zum Ende des Gottesdienstes dürfen sich alle Pilger rund um den Altar stellen. Jeder wird von Pfarrer in seiner Muttersprache nach den Startort und dem Wohlbefinden gefragt, bevor er allen den Pilgersegen erteilt. Ich hatte zwar keine Vorahnung, aber das war jetzt das i-Tüpfelchen, um morgen früh und nicht schon heute nach Santiago zu gehen. Jetzt kann ich dankbar den Tag abschließen und mich zu Bett begeben. 

Mittwoch, 20. Juni 2018

Auch ein Stolperstein kann mich nicht aufhalten

10. Etappe: Ferreira - Arzúa (35,8 km, 8:00 Std)
Nach einem kleinen Frühstück geht es heute um 7:15 Uhr los. Heute morgen dominiert wieder der Nebel, aber es ist angenehm, bei diesen Bedingungen auf der Straße zu sein. Außerdem habe ich heute eine Mammutetappe bis Arzúa vor, es erwarten mich rund 35 km.
Und dann passiert es. Nach ungefähr drei Kilometern biege ich von der Straße ab auf einen Feldweg und übersehe anscheinend einen  hervorstehenden Stein. Nur Bruchteile von Sekunden später erledigt die Schwerkraft den Rest und 1,80 m Körpergröße inklusive Rucksack und zwei Stöcken liegen  flach auf dem Boden. Zunächst weiß ich gar nicht, wie mir geschieht. Ich rappel mich relativ schnell wieder auf und spüre nur einen brennenden Schmerz an der Innenseite meiner Unterlippe. Dort haben sich meine oberen Schneidezähne hineingebohrt und ich spüre den Geschmack von Blut, der sich meinem Mund breitmacht. Eine anschließende Überprüfung ergibt zum Glück keine weiteren großartigen Verletzungen, eine kleine Schramme an der linken Hand und ein aufgeschlagenes rechtes Knie. Ansonsten werde ich jetzt die nächsten Tage mit einer dicken Lippe herumlaufen, dazu schmerzen Kinn und Nase ein wenig. Da habe ich wohl noch mal richtig Glück gehabt.
Gegen 8:30 Uhr ist der Nebel dann verschwunden und die Sonne macht sich am blauen Himmel breit. Ich hoffe, dass die Temperatur noch ein wenig kühler bleibt, damit es auch weiterhin angenehm zum laufen ist. Hinter As Seixas geht es nun ein klein wenig den Berg hinauf über eine Passhöhe, aber dss kennen meine Beine ja. Der Camino führt mich momentan durch kühle Waldabschnitte, aber auch wieder über Zubringerstraßen zu abgelegenen Bergdörfern. Nachdem es hinter dem Pass wieder leicht abwärts geht, kann ich  in der Ferne schon Melide erkennen. Vor mir sind auch eine ganze Reihe Pilger unterwegs, was in den letzten Tagen eigentlich eine Seltenheit war. Da bin ich auf Sichtweite fast immer alleine gelaufen.
Nach vierzehn Kilometern erreiche ich ein kleines Dörfchen, Vilamor, in dem die Kirche offen steht und in der ich von zwei Studenten einen  Stempel erhalte. Nur zehn Minuten später erreiche endlich die Bar Carburo Parrilada, wo ich eine erste ausgiebige Pause einlege. Es ist zwar erst 10:15 Uhr, aber genau die richtige Zeit für ein kaltes San Miguel, alkoholfrei natürlich. In der Bar macht auch Dave aus Bew York eine Rast. Nach gut 20 Minuten mache ich mich wieder auf den Weg, es geht nun in Richtung Melide.
Dort angekommen, besorge ich mir schnell in einem Supermarkt etwas Trinkjoghurt und eine Cola. Wieder einmal erreiche ich um 12:00 Uhr speziellen Ort - heute ist es das Zusammentreffen des Camino Frances und des Camino Primitivo. Von Melide bekomme ich letztes der überhaupt nichts mit, so schnell bin ich da wieder raus.
Ich bin zwar erst ein paar wenige Kilometer auf dem Camino Frances,   aber ich kann schon deutliche Unterschiede zum bisherigen Weg erkennen. Zum einen nimmt ab Melide der Kommerz zu, darüber hinaus fehlt mir jetzt die gewohnte  Einsamkeit. Ich habe ständig Pilger  um mich herum, mit großen und kleine Rucksäcken. Ich kann jetzt Thorsten verstehen,  ab Lugo noch einmal auf den Camino del Norte zu gehen. Momentan weiß ich nicht, ob ich das so über 800 Kilometer haben möchte. So krass hätte ich das mir nicht vorgestellt.
Es geht nun in einer langen Pilgerschlange zunächst einmal ein langes Stück durch einen gut  riechenden Eukalyptuswald und danach auf breiten Schotterwegen in Richtung Arzúa. An einer Erfrischungsstelle mitten im Wald treffe ich Marcel, der heute das gleiche Ziel wie ich habe.
An jeder Ecke habe ich jetzt die Möglichkeit, mir einen Stempel in das Credencial geben zu lassen.  Das wird mir dann irgendwann aber auch zu viel und ich belasse es bei ganz besonderen Stempel. Ein solcher ist zum Beispiel der aus der  Santiago-Kirche in Boente. Um 13:40 Uhr mache ich nach dreißig Kilometern eine zweite kleine Pause. An dem Rastplatz befindet sich auch ein kleiner Bach, in den ich meine Füße eintauche. Das tut  richtig gut, vor allem bei Temperaturen um die 25 Grad. Während meiner Pause kam auch noch Francisco dazu, wir haben noch ein klein wenig gequatscht. Nach zwanzig Minuten geht es dann weiter auf die letzten fünf Kilometer. 
Es ist schon sehr interessant, was hier für unterschiedliche Leute unterwegs sind. Irgendwann hole ich Marcel ein und wir gehen die letzten drei Kilometer zusammen nach Arzúa, wo wir schließlich nach 35,8 Kilometern gegen 15:15 Uhr in der schönen Privatherberge Via Láctea eintreffen. Nach der großen Wäsche Ruhe ich mich noch etwas aus und gegen 20:00 Uhr gehen Marcel und ich in eine nahe gelegene Bar etwas essen. Wir entscheiden uns für Pasta und Fisch. Allmählich wird es mir unangenehm, dass ich nicht soviel verstehe und auch selbst kaum etwas sagen kann. Wir nutzen jetzt sogar ein Übersetzungsprogramm. Um kurz nach 21:00 Uhr liege ich im Bett und versuche, mich für morgen zu erholen. 

Dienstag, 19. Juni 2018

Asphalt staubt Schuhe nicht ein

9. Etappe: Lugo - Ferreira (30,1 km,  6:45 Std)
Ich habe meine Pläne gestern Abend noch einen kleinen wenig umgeworfen, und werde statt dem regulären Weg noch einen kleinen Abstecher zu einer romanischen Kirche aus dem Mittelalter machen. Dieser Abstecher wird mich allerdings rund 5 km mehr Wegstrecke kosten. Deswegen habe ich mir in Ferreira noch ein Bett reserviert, so dass ich heute nicht unter Zeitdruck laufen muss. Um ca 7:15 Uhr geht es los. Der Himmel ist schon blau, das Wetter verspricht auch wieder gut zu werden - also alles ideal für einen guten Pilgertag. Der Rucksack ist heute wieder 2 kg schwerer, da ich aufgrund der zu erwartenden Temperaturen und der Wegstrecke  genügend Getränke mit dabei habe.
Apropos Rucksack. Ich glaube, unsere gemeinsame Zeit geht nach diesem Camino zu Ende. So langsam verabschiedet sich ein Reißverschluss nach dem anderen und auch weitere Verschleissteile sind nicht mehr in dem Zustand,  den man nutzbar bezeichnen kann. Immerhin ist das jetzt der vierte Camino nach Santiago, plus der Weg von Koblenz nach Vézelay und weitere Wege in Deutschland, auf denen er mir in etwa zehn Jahren treue Dienste geleistet hat. Ich werde mich also nach meiner Rückkehr nach etwas Neuem umsehen müssen.
Nach einer guten Dreiviertelstunde habe ich auch die letzten Häuser der Vororte von Lugo hinter mir gelassen und laufe wieder in ländlicher Region auf einer Nebenstraße. Nach knapp zehn Kilometern erreiche ich das Dorf O Burgo, wo sich hinter einem Garagentor ein nett eingerichteter Rastplatz für Pilger befindet, der auch mit Getränke- und Snackautomaten sowie einer Mikrowelle und Toilette ausgestattet ist.
Zwei Kilometer später verlasse ich die Straße und zweige auf eine noch kleinere Nebenstraße ab, der ich jetzt gut zwei km folgen werde, um die Igrexa Santa Eulalia de Bóveda zu besuchen und zu besichtigen. Gerade dachte ich noch, wie einsam doch hier dieser Abschnitt sei. Man befindet sich mitten in der Natur, rechts und links Bäume und Wiesen und das übliche morgendliche Konzert der Vogelschsr, das hin und wieder von Hundegebell unterbrochen wird. Da begegnen wir zwei französische Pilgerinnen, die mir bestätigen, dass sich der Besuch der Kirche wirklich lohnt und sie sehr schön sei. Sie gehen jetzt den gleichen Weg wieder zurück. Anscheinend sind sie nicht darüber informiert,  dass man auch über eine andere Route zum Camino zurückkehren kann. 
Der Abstecher hat sich tatsächlich gelohnt, ich bekomme von Antonio das christliche Monument gezeigt, dass bereits unter einem Betonsarkophag versteckt ist. Ich  bin erstaunt über die sehr gut erhaltenen Wandmalereien an der Decke und hoffe, dass dieser kulturelle Nachlass noch lange erhalten bleibt. Nach der Besichtigung möchte ich Antonio noch einen kleinen Obolus für die Erhaltung geben, aber vehement ab. Ich setze dann meinen Weg über die mit roten Pfeilen versehene Ruta O Vello Lugo Agrario fort und bin nach zusätzlich drei Kilometern Weg wieder auf dem Camino. Es geh zuerst einmal durch ein Waldstück, bevor wieder die Straße der bevorzugte Untergrund wird. Heute kann man froh sein über jedes kleines Stückchen, das nicht über Asphalt führt. Doch davon gibt es leider nicht sehr viel.
Eine erste Rast mache ich dann gegen 12:00 Uhr, wo ich an einer Bushaltestelle ein Stück von meiner gestern gekauften Wurst zu mir  nehme. Als ich dann weiter laufen möchte, befinde ich mich mitten in einer Gruppe Buspilger, die gerade von ihrem Fahrer mit Wasserflaschen versorgt werden. Kurz vor San Román werde ich von Lis und ihrem italienischen Begleiter überholt und wir laufen ein kleines Stückchen gemeinsam bis zur Herberge O Candido, die mitten in einem Wäldchen liegt. Die beiden laufen weiter, ich trinke erst einmal zwei kleine alkoholfreie Biere. Die habe ich mir jetzt einfach verdient.
Danach kommt etwas, dass ich jetzt seit ein paar Tagen nicht mehr kenne: es folgt eine Kombination Anstieg-Abstieg-Anstieg-Abstieg-Anstieg. Das tut dem aktuellen Flachlandpilger unter der Mittagssonne richtig weh. Zur Aberchslung befindet sich da mitten drin in einem Dorf in einer früheren Scheune eine kleine  Lederkunstwerkstatt. Ich bin neugierig und schaue rein. Mit einem ledernen Schlüsselanhänger in Muschelform gehe ich wieder raus. Da wird zukünftig mein Autoschlüssel dran hängen.
Dann treffe ich noch Marcel und wir laufen die letzten beiden Kilometer zur Herberge gemeinsam, wo wir kurz nach 14:00 Uhr eintreffen. Während ich mein reserviertes Bett in Empfang nehme, läuft er noch weiter.
Ich nutze wieder einmal die Gelegenheit, meine Wäsche maschinell waschen zu lassen. Erstmals muss ich auch meine Wäscheleine nutzen. Abendessen - es gibt eine Meeresfrüchte-Paella - und das Frühstück habe ich gleich mitgebucht. Jetzt heißt es auf der schönen Wiese zu relaxen und Kraft tanken für morgen. Die Paella wird vor unseren Augen zubereitet und ist wirklich eine Wucht. Ich sitze mit ein paar Italienern und Tatjana aus Litauen zusammen, aber irgendwie wollen die mit uns nichts zu tun haben. So belassen wir es halt und führen eine nette Unterhaltung auf Englisch. Wir sind zwar beide nicht die großen Könner, aber es funktioniert. Gegen 21:30 Uhr löst sich die Gesellschaft auf und ich mache mich bettfein.
P.S.: Da ich keine Handybilder von der Igrexa Santa Eulalua de Bóveda habe, war ich so frei und habe mir ein Bild von der FB-Seite von Marc Hamann ausgeliehen. Er ist mir übrigens nur wenige Kilometer voraus. 

Montag, 18. Juni 2018

Lugo: rauhe Schale, süßer Kern

8. Etappe: Castroverde - Lugo (23,4 km, 4:45 Std)
Das war wieder eine Nacht, wie man sie sich nicht wünscht. In meinem Schlafraum gab es wieder ein paar hochkarätige Schnarcher, die mich nicht zur Ruhe haben kommen lassen. Irgendwann bin ich anscheinend doch eingeschlafen, aber bereits um 4:30  Uhr drohte das nächste Unheil. Dann begannen nämlich die ersten, ihre Rucksäcke zusammenzupacken und sich auf den Weg zu machen. Es ist mir zwar ein Rätsel, wie man für eine Etappe, die etwas über 20 km geht, schon so früh und vor allem im Dunkel losmarschieren muss. Den Gipfel hat aber eine spanische Familie abgeschossen, die fast eine ganze Stunde gebraucht hat, in unserem Schlafraum ihre Sachen zusammenzupacken. Das Highlight war dann noch, als sie sich dann von einem Auto haben abholen lassen. Heute Morgen scheint es einen schönen Tag zu geben, der Himmel ist bereits blau, kein Wölkchen ist zu sehen und bei der aktuellen  Temperatur lässt es sich schon sehr angenehm laufen. Ich starte bereits um 7:00 Uhr. Anhand der im Schuhregal vorhandenen Schuhe stelle ich fest, dass noch höchstens vier oder fünf andere Pilger in der Herberge sein können. Zunächst laufe ich durch eine Wiesenlandschaft und danach durch ein größeres Waldstück. Die Natur erwacht allmählich und es riecht nach frisch gemähtem Heu. Als ich dann durch das kleine Dörfchen Vilar de Cas laufe, stelle ich zu meiner Überraschung fest, dass es hier auch etwas zu essen und zu trinken gibt. In einem nett gestalteten Hof hat die dort ansässige Familie einen kleinen Verkaufsstand eingerichtet, und bietet den Pilgern Kaffee, Frühstück und Kaltgetränke zu kleinem Preis an. Dort treffe ich Katja, die auch ein kleines Frühstück einnimmt. Am Ende des Dorfes komme ich an den Abzweig, um zur rund tausend Jahre alten, mittelalterlichen Kirchenruine San Salvador zu gelangen. Das kostet mich zwar einen Umweg von rund 800 m, aber ich bin halt neugierig und nehme die zusätzliche Strecke in Kauf. Durch eine Öffnung im Portal kann ich ins Innere blicken und mir ungefähr die frühere Pracht vorstellen. Wieder zurück auf dem Originalweg geht es zunächst weiter auf einer Nebenstraße. Im Verlauf folgt eine kurze Steigung - die einzig nennenswerte am heutigen Tag - und anschließend eine Hauptverkehrsstraße, an der ich rund 1,5 Kilometer bleiben muss. Zum Glück bleibt trotz rasender LKW dieser gefährliche Abschnitt ohne Zwischenfälle bald und ist bald vorüber. Ich kann endlich nach rechts auf eine kleinere Nebenstraße einbiegen und laufe  schon bald auf naturbelassenen Wege, vornehmlich im Wald. Am Kilometerstein 105 komme ich aus dem Staunen nicht raus. Dort sitz nämlich genau die Familie, die heute morgen in der Herberge den großen Zirkus beim Verpacken der Rucksäcke gemacht hat. Da frage ich mich wirklich, was die vier in den vergangenen dreieinhalb Stunden an Kilometern selbst zurück gelegt haben. Ich habe die große Befürchtung, dass ich sie in  Lugo in der Herberge wieder treffen werde und morgen früh das Spiel von vorne beginnt. Mit Lugo erreiche ich gleich zum ersten Mal seit Oviedo wieder eine etwas größere Stadt. Man merkt das auch schon an dem zunehmenden Lärm der nahegelegenen Verkehrswege, zum Beispiel einer Autobahn, die ich in diesem Moment überquere. Kaum gehe ich durch ein etwas heruntergekommenes und anscheinend auch kaum bewohntes Dörfchen, kann ich in der Ferne schon die modernen Hochhausbauten von Lugo erkennen. Diese unterscheiden sich doch sehr extrem von dem,  was ich in den letzten Tagen zu Gesicht bekommen habe. Wesentlich größere Bedeutung hat für mich der jetzt gleich und hoffentlich erscheinende 100 km-Monolith, der für Jakobspilger immer etwas Besonderes darstellt. Ich warte vergebens, dafür geht es durch eine moderne Stadt immer aufwärts, und es gefällt mir hier überhaupt nicht. Aber ich vermute mal, dass sich das alles gleich anders darstellen wird, wenn ich die komplett erhaltene mittelalterliche  Stadtmauer erreiche. Und so ist auch. Am ersten Stadttor finde auch zunächst meinen ersehnten Stein mit der magischen Zahl 99,583 km bis Santiago. Dahinter findet ein pulsierendes Leben in schmalen Gassen, auf großzügigen Plätzen, in Geschäften und Bars oder Restaurants statt. Und mittendrin ist die moderne Pilgerherberge platziert. Da ich dort bereits um 12:00 eintreffe, erkunde ich schon einmal die Stadt ind die Kathedrale, denn die Herberge öffnet erst um 13:00 Uhr. Später werde ich durch die Gassen bummeln, mir etwas zu Essen suchen und um 20:00 Uhr am Pilgergottesdienst teilnehmen. Auf dem Weg zur Kathedrale treffe ich noch einmal Thorsten, der morgen wieder auf den Camino del Norte geht, und Marcel. Einen Pilgergottesdienst gibt es zwar nicht, dafür darf ich der Aufnahme eines Kanonikers in das Kathedralkapitel beiwohnen mit anschließendem Gottesdienst mit Bischof Alfonso, von dem ich auch die Kommunion empfangen darf. So geht ein schöner Tag mit überragenden Abendprogramm zu Ende. 

Sonntag, 17. Juni 2018

You'll never walk alone

7. Etappe: Vilardongo - Castroverde (30 km, 7:15 Std)
Um 7:45 Uhr beginne ich meinen siebten Pilgertag. Heute gibt es zwar keinen Nebel, dafür ziehen dunkle Wolken über das Land hinweg, die aber in circa zwei Stunden dann der Sonne entweichen sollen. Die Berge rund um mich herum sind heute nicht sichtbar, sondern sind mit einem dichten Wolkenband verhangen. Es ist noch etwas frisch, dazu weht  ein leichter Wind, sodass ich erst einmal mein langes Hemd anbehalten werde.
Es ist schon erstaunlich, in welch kurzer Zeit sich die Umgebung hier verändert. Nach nur einer guten Dreiviertelstunde sind die dunklen Wolken komplett verschwunden, und mir gegenüber blinzeln inzwischen auch die Bergspitzen wieder in den blauen Himmel hinein. Der Wind hat auch deutlich nachgelassen und es ist jetzt äußerst angenehm durch die galicische Bergwelt zu pilgern. Hin und wieder sieht man jetzt auch in den Dörfern Cruceiros, die mittelalterlichen Pilgerwegweiser.
Momentan bin ich dabei, den höchsten Punkt des heutigen Tages auf rund 1000 Metern zu erklimmen, wo sich auch ein früheres Pilgerhospital befindet. Die Herberge wurde im 14. Jahrhundert gegründet und war bis zum 20. Jahrhundert im Betrieb. Anhand der Überreste kann man sehr gut nachvollziehen, welche Größe die Anlage früher einmal hatte.
Nachdem ich um 9:00 Uhr den Pass überquert habe, führt mich der Weg wieder in tiefere Gefilde, wo ich in der nächsten Bar ein kleines Frühstück einnehmen werde. Doch bevor es soweit ist, muss ich den ziemlich steilen Abstieg hinter mich bringen, bei dem ich mich schwerpunktmäßig auf meine Stöcke abstützen werde. Hier ist es sehr einsam und es herrscht eine Himmelsruhe, nur Vogelgezwitscher und meine Schritte durchdringen die Stille.
Um ziemlich genau 10:00 Uhr mache ich in der Casa Mesón eine Frühstückspause und bestelle mir einen Café con leche und ein Boccadillo mit Käse und Schinken. Inzwischen füllt sich die Bar mit vielen bekannten: Antonio,  Jammar, Francisco und anderen.  Aus den Lautsprechern ertönt die Liverpooler Fußballhymne "You'll never walk alone". Sie passt auch so wunderbar zum Camino, ist mir bisher gar nicht aufgefallen. Du bist du nicht alleine auf dem Weg, irgendwer ist immer in deiner Nähe, auch, wenn du ihn nicht siehst.  Noch gut 35 Minuten Pause geht es wieder weiter auf den Weg. Nur ein paar Kilometer weiter in Degolada  steht die kleine Dorfkirche offen - die erste offene Kirche auf dem Camino! Marcel und ich gehen hinein und nehmen noch am überwiegenden Teil eines Gottesdienstes teil. Außer uns beiden sind noch zwei Frauen aus dem Weiler anwesend.
Die Mittagssonne wird jetzt intensiver, doch der Camino verläuft zum Glück überwiegend durch schattige Waldwege. An dem nächsten Gehöft winkt mir bereits Thorsten zu. Er hat mit Katja, einer Pilgerin aus Tschechien, am ehemaligen Pilgerhospiz im Freien übernachtet und wandelte somit auf traditionellen Pilgerspuren. Kurz danach erwartet mich ein Anstieg, wie ich ihn bisher noch nicht auf dem Camino erlebt habe. Ich habe das Gefühl, der Steigungsgrad nimmt Schritt für Schritt zu. Irgendwie fühle ich mich richtig fertig, und dann fliegt auch noch Thorsten an mir mit lockerem Schritt vorbei und lächelt dabei. Unmittelbar nach dem Ende des Anstieges befindet sich eine kleine Bar, wo ich freudestrahlend ein kaltes Bier bestelle - das tut gut. Kaum ist das Bier verdampft, habe ich die nächste Herausforderung,  sprich: einen weiteren richtig schönen Anstieg vor mir, der mich erneut auf eine Passhöhe von rund tausend Metern bringen wird. Das fordernde neben der Steigung ist auf diesem Abschnitt die senkrecht stehende Mittagssonne. Dahinter erreiche ich bald Fontaneira, wo ich mir die Möglichkeit auf eine Erfrischung in einem mittelalterlichen Hospital nicht entgehen lasse. Das alkoholfreie Bier ist so gut gekühlt, das es gar nicht aus der Flasche fließt. Die nächsten Kilometer nach O Cadavo verlaufen relativ unspektakulär auf breiten Feldwegen, die aber ungeschützt in der prallen Sonne liegen. Der Ort liegt zudem in einer Senke, dementsprechend geht es zunächst einmal ordentlich abwärts, um anschließend wieder auf einen weiteren Pass von rund neunhundert Metern Höhe anzusteigen. Es ist dies nun schon der vierte heftige Anstieg am heutigen Tag und es wird hoffentlich der letzte sein. Schließlich erreiche ich eine Hinweistafel, die über zwei verschiedene Wegvarianten informiert. In dem Moment kommt gerade Thorsten mit Katja vorbei und ist auch der Meinung, dass der längere Weg der schönere und einfachere ist. Auch hier geht es natürlich zunächst noch mal ein wenig aufwärts, allerdings das meiste  wird dann in der Abwärtsbewegung durchgeführt. In der Ferne sehe ich schon eine größere Stadt. Ich gehe davon aus, dass es sich hierbei um Lugo handelt, mein morgiges Tagesziel. Schließlich erreiche ich gegen 15:30 Uhr die Herberge in Castroverde. Bilanz des Tages: 30 km, 1050 positive und 1348 negative Höhenmeter. Jetzt habe ich nur noch Durst, Durst und Hunger. Marcel, Thorsten, die Katja und ich schauen uns in einer Bar die Premiere der deutschen Nationalmannschaft bei der WM an und essen auch zu Abend. Ich bestelle mir heute eine Platte mit Chorizo, Salat und Pommes. Um 22:00 Uhr wird die Herberge geschlossen, die meisten liegen sowieso schon im Bett.