Ich glaube, Olli war heute Nacht extrem aufgeregt. Er wird zum ersten Mal einen Camino in Santiago beenden. Für mich ist es nach dem vergangenen Jahr das zweite Mal. Irgendwie bin ich ruhig und gelassen, fühle mich beinahe schon routiniert. Bevor der Wecker klingelt, steht Olli auf und macht sich frisch, kocht Kaffee und bereitet das Frühstück vor. Auch ich bin dann schnell aus dem Bett, habe ein menschliches Bedürfnis. Wir verspeisen ein paar Scheiben Toast mit Marmelade und überlassen die Küche Kathlyn und ihrer Familie. Dann halten wir es nicht mehr aus und schultern die Rucksäcke. Schon recht bald sind wir aus Sigüeiro heraus und laufen durch kühlen Wald. Und schon bald haben wir einen ersten, aber nicht so steilen Anstieg vor uns. Endlich kommt auch die Sonne wieder zum Vorschein und sorgt für eine wohlige Wärme. Nach rund 5 Kilometern kehren wir in Merantes in eine Bar ein und genehmigen uns ein Heißgetränk sowie den dazu gereichten Kuchen. Das tut gut und sorgt zudem für den ersten von zwei notwendigen Stempeln für den heutigen Tag. Der Weg führt uns weiterhin vornehmlich durch die Natur und wartet noch einmal mit einem Anstieg auf. Plötzlich taucht aus einem Seitenweg eine größere Schülergruppe vor uns auf, die am Rande eines Gewerbegebietes eine Rast einlegt. Gegenüber befindet sich noch einmal eine Bar, wo wir letztmalig einkehren. Dort treffen wir eine Familie aus Novo Sancti Petri, südlich von Cadiz gelegen. Hier war meine Familie mit einer Gruppe schon neunmal für eine Sportreise zugegen. Ich liebe diese Gegend in Andalusien. Zufälle gibt es! Wir durchqueren das Gewerbegebiet und erreichen die ersten Ausläufer von Santiago. Dabei kommen wir zwei Pilgern näher, die sich Jardi und der Großvater ihres Freundes aus Alicante herausstellen. Die beiden haben wir erstmals in Hospital da Bruma kennengelernt, als er sich bei unserer Ankunft über einem gehäuften Teller mit kleinen Schnecken hermachte. Es entwickelt sich eine nette Unterhaltung. Jardi kann ein wenig Englisch. Gemeinsam kommen wir dem Zentrum von Santiago näher. Mir wird es dabei komisch zumute, meine Schritte werden langsamer, als wolle ich diesen Einmarsch noch herauszögern. Die ersten Tränen kullern schon aus den Augen. Der Zeitpunkt ist wohl gekommen, an der Pilger auf dem diesjährigen Casino weinen muss. Wir passieren die Franziskuskirche und der Tränenfluss will nicht mehr aufhören. Ich genieße die letzten Meter bis zur Plaza de Obradoiro noch intensiver als im vergangenen Jahr. Punkt 11:00 Uhr treffen wir mit Glockenschlag auf der Plaza ein. Es ist ein umwerfender Augenblick, wieder vor der Kathedrale stehen zu dürfen. Ich möchte am liebsten die ganze Welt umarmen und greife mir einfach meine Begleiter der letzten Kilometer. Jardi und der Großvater verabschieden sich herzlich von uns. Olli und ich geben unsere Rucksack schnell im Pilgerbüro ab, dann geht es mit flotten Schritten zur Kathedrale, denn gleich beginnt der Pilgergottesdienst. Leider ist kaum noch Platz in der Kirche. Auf dem Weg nach ganz hinten sehen wir Kathryn and family und begrüßen sie. Dann beginnt der Gottesdienst und bei mir lösen sich wiederum die Tränen aus den Augen. Die Messe ist der sehr emotional für mich. Meine Gedanken sind bei meiner Familie und der Verwandtschaft, meiner verstorbenen Oma und Tante, bei meinem Pilgerfreund Franz-Josef und Jörg, der dieses Jahr nicht mit unterwegs sein kann. Ich bin dankbar für den bisherigen Weg, den ich mit Olli gehen durfte. Es hat bisher unheimlich viel Spaß gemacht. Das Fass zum Überlaufen bringt am Ende der Messe das Schwenken des Botafumero, das ich jetzt zum dritten Mal erleben darf. Nach der Pilgermesse geht es zurück ins Pilgerbüro, um die Compostela und die Rucksäcke abholen und schließlich in San Martin Pinario einzuchecken. Diese gehobene Unterkunft ist unsere Belohnung für den Camino. Auf dem Weg dorthin werden wir von einer Frau angesprochen, ob wir eine Unterkunft benötigten, was wir aber verneinten. Leider stelle ich zu spät fest, dass es sich bei der Dame um unsere letztjährige Vermieterin handelt. Nun heißt es duschen, frisch machen und die Stadt erkunden. Wir gehen noch einmal in die Kathedrale - natürlich durch die Heilige Pforte, die ja wegen dem vom Papst ausgerufenen Jahr der Barmherzigkeit geöffnet ist. Zudem nutzen wir die Gelegenheit zu einer Umarmung der Jakobusstatue und begeben uns anschließend in die Krypta zum Sarg des Jakobus. Hier unten entzünde ich eine Kerzen für Franz-Josef und die Lebenden und Verstorbenen meiner Familie. Auf dem Kathedralplatz treffen wir Sebastian, mit dem wir uns noch ein wenig unterhalten. Wir verabschieden uns von ihm, denn er wird erst einen Tag nach uns auf den Camino Fisterra gehen. Auf unserem weiteren Rundgang durch Santiago treffen wir noch weitere Pilger, die wir in den vergangenen Tagen kennengelernt haben. Darunter sind der Vater von James, die Familie aus Andalusien und Vater und Tochter, die in Porrino am Camino Portugues leben. Die beiden werden wir wohl in den nächsten Tagen noch öfters sehen, denn auch sie werden morgen den gleichen Weg wie wir einschlagen. Leider muss ich feststellen, dass das Geschäft, in dem ich vergangenes Jahr meine ganz spezielle Pilgermuschel bekam, wohl nicht mehr existiert. Zum Abschluss des Abends kehren wir noch in einer Pulperia ein und nehmen unser Abendessen zu uns. Danach wird es Zeit, wieder in die Unterkunft zurückzukehren, denn morgen früh wollen wir uns um 7:30 Uhr zum Frühstück begeben und danach direkt auf den Weg machen.
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