25.06.2015: Von Padron nach Santiago de Compostela
Anscheinend wurden bei unserem San-Juan-Ritual doch nicht alle bösen Geister vertrieben - und die übrigen befanden sich wohl ausnahmslos heute Nacht in unserem Schlafsaal. Gut, bei 46 belegten Betten kommt es schon einmal vor, dass ein paar Schnarcher dabei sind, aber so viele auf einmal, grenzt schon fast an Bestrafung. Und der Chef der bösen Geister lag auch noch unmittelbar hinter uns. Mir hat das eine recht schlaflose Nacht bereitet. Ab 5.00 Uhr begannen dann die ersten nervösen Pilger mit ihren Vorbereitungen - und das wieder sehr rücksichtslos. Ich stehe daher schon um 5.30 Uhr auf, ziehe mich an und begebe mich auf die Wallfahrt zum Santiagino de Monte. Hier soll Jakobus angeblich seine erste Predigt auf spanischem Boden gehalten haben. Nach meiner Rückkehr in die Herberge wecke ich Jörg und bringe meinen Rucksack nach unten in die Küche, um ihn fertig zu packen. Heute werde ich in Sandalen pilgern, da ich mir wohl gestern in der letzten halben Stunde ein wenig die Hacken aufgescheuert habe. Ich hätte die Socken zwischendurch einmal ausziehen sollen und trocknen lassen. Wenig später kommt Jörg dazu und wir unterhalten uns nun mit Carolina aus Virginia sowie unsern italienisch-spanischen Pilgerfreunden, die wir alle drei noch öfters unterwegs sehen sollen. Wir laufen jetzt aber nur ein kurzes Stück, um in einer Bar noch etwas zu uns zu nehmen. Es wird dann ein Café con leche und ein Stück Tarta de Santiago. Die Bar selbst ist zugepflastert mit Erinnerungen und Artefakten vom Camino von hier eingekehrten Gästen aus aller Welt. Meine Visitenkarte hängt nun auch an einer Wand. Dann geht es richtig los, zunächst an der Landstraße, dann kreuz und quer durch schmale Gassen kleiner Dörfer. Einmal endet der Weg vor uns, sodass wir die zwischen der Fortführung und uns liegende Bahnlinie überqueren. Momentan ist es frisch und der Nebel hängt tief, kleine Tröpfchen setzen sich auf meiner Brille fest. Nach rund 10 Kilometern würden wir gerne noch etwas richtiges frühstücken, doch in der ersten Bar gibt es nur noch Getränke. Erst 200 Meter weiter bekommen wir ein Bocadillo mit Seranoschinken. Ab Teo bricht unser letztes Teilstück auf dem Camino an. Noch knapp 13 Kilometer sind wir auf Pilgerschaft. Innerlich stimmt mich das ein wenig traurig, dass die Zeit bereits herum zu sein scheint. Wir laufen jetzt abwechselnd durch naturbelassene Abschnitte und urbane Gebiete. Man merkt, dass Santiago näher kommt. Am Ende eines ansteigenden Waldweges erwartet uns eine "mobile" Bar, deren Angebot wir gerne annehmen und und erfrischen. Hinter einen Umspannwerk haben wir erstmals direkten Blick auf Santiago, auch die Türme der Kathedrale scheinen durch den immer höher steigenden und schließlich sich auflösenden Nebel hindurch sichtbar zu sein. Der Himmel klart weiter auf und die Sonne wird wohl unseren Einmarsch in die Jakobusstadt in einem guten Licht erstrahlen lassen. Am Rande eines holprigen, abwärts führenden Wegstückes sitzt eine Frau zusammengekauert und sieht sehr enttäuscht aus. Sie hat sich vermutlich bei einem Sturz den linken Arm gebrochen und ist jetzt nicht mehr in der Lage, eigenständig die verbleibenden vier Kilometer zu laufen. Hilfe sei aber bereits unterwegs, versichert uns ihre Begleiterin, sodass wir unseren Weg fortsetzen. Ein letzter Anstieg zu einem Krankenhaus fordert uns noch einmal. Ich versinke immer tiefer in meine Gedankenwelt und erste Tränen kullern aus den Augen. Der folgende Wegabschnitt ist nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Wir gehen durch eine laute, stinkende und sich langsam fortbewegende Straße in Richtung Zentrum. Erst als wir an den Rand der Altstadt gelangen, brodelt es wieder in mir. Auch hier pulsiert das Leben, aber es ist anders, als eben. Hier begegnen dir Pilger mit fröhlichen Gesichter.
Unser Weg endet schließlich nach 251 Kilometern auf der Praza do Obradoiro vor der Kathedrale. In diesem Moment fällt so ziemlich alles von mir ab und ich fühle mich leicht wie eine Feder. Ein unglaubliches Glücksgefühl durchflutet mich. Ich muss mich auf den Boden setzen, mit Blickrichtung zur Kathedrale, die leider hälftig mit Gerüsten versehen ist. Ich lasse mich einfach fallen und schaue nach oben, wo Jakobus auf mich herabschaut. Ich bin in diesem Augenblick nur Dankbar. Meiner Familie, die mich ziehen gelassen hat, meinem Pilgerfreund Jörg, dass er wieder einmal mit mir losgezogen ist. Dankbar dafür, dass wir gesund und ohne Blessuren in Santiago angekommen sind. Dankbar allen, die mich bei allen Camino-Aktivitäten unterstützt haben.
Nachdem wir unsere Unterkunft bezogen haben (Jörg hat dort schon vor drei Jahren ein Zimmer gehabt), machen wir uns frisch und gehen zum Pilgerbüro, um unsere Compostela entgegenzunehemen. Die Wartezeit von einer guten Stunde überbrücken wir mit Gesprächen. So lernen wir Ulrike aus der Nähe von Heidelberg kennen, die wie wir in Porto gestartet ist. Während Jörg sich noch etwas ausruht, möchte ich den Tagesbericht schreiben, jedoch macht die Bar gleich zu. Also gehe ich bis zur vereinbarten Treffzeit schon einmal in die Kathedrale und habe das Glück, schon einmal die traditionelle Umarmung des Jakobus am Hochaltar zu vollziehen und in der Krypta am Sarkophag ein Dankgebet zu sprechen. Nach dem Pilgermenü in der Casa Manolo setzen wir uns noch kurz in eine Bar in der Nähe unserer Unterkunft und beenden den Abend allmählich.