Samstag, 11. Oktober 2025

Als Statisten nicht gewollt

11.10.2025: Santiago de Compostela (ca. 10 km)


Der Caminho Portugues ist geschafft, heute wird Santiago auf den Kopf gestellt. Gut, das macht wohl eher die Masse an Pilgern und noch mehr Touristen, die durch die Stadt getrieben werden. Zu früher Morgenstund ist Santiago menschenleer, der Boden ist nass von der Reinigungskolonne und die Markthallen werden von vereinzelten Fahrzeugen beliefert. Jörg und ich sind früh auf den Beinen, wir wollen um 8:00 Uhr am Gottesdienst der deutschen Pilgerseelsorge in der Kapelle im Gebäude des Pilgerbüros teilnehmen. Vor dem Eingang warten bereits die ersten Pilger, um Ihre Compostela abzuholen, werden aber von der Security noch vertröstet. In der Kapelle erwartet uns das aktuelle Team mit Adelheid, Bernd und Martina. Besonders schön finde ich, dass wir uns zu den Fürbitten alle um den Altar stellen dürfen. Jeder hat die Möglichkeit, etwas Weihrauch auf eine glühende Kohle zu streuen und etwas zu sagen oder denken. Meine lauten und leisen Gedanken sind bei meinem französischen Pilgerfreund Marcel und meiner ganzen Familie. im Anschluss an den Gottesdienst erteilt Bernd jedem einen persönlichen Segen. Es folgt eine Einladung zu einer Gesprächsrunde, die von den meisten gerne angenommen wird.


Jörg und ich haben um 10:30 Uhr einen Termin bei der Barberia da Praza, den wir schon gestern vereinbart hatten. Vorher nehmen wir noch ein kleines Frühstück ein, damit wir den Rest des Tages auch durchhalten können. Unser Barbier gibt sich richtig Mühe und geht gründlich zu Werke. Bei mir verschwindet die komplette Haartracht aus dem Gesicht, bei Jörg wird gekürzt und konturiert. Zufrieden und wieder hübsch für das normale Leben ziehen wir weiter zu den benachbarten Markthallen. Es ist immer wieder interessant, durch die verschiedenen Abteilungen des Marktes zu laufen. Wir entscheiden uns dann auch kurzfristig, noch einmal eine Racion Pulpo und dazu frische Miesmuscheln zu vertilgen. Das war eine sehr gute Idee und auch hier ziehen wir zufrieden von dannen. Bevor wir zur Praza de Obradoiro gehen, besorgen wir uns je eine Rolle Frischhaltefolie, mit der wir morgen unsere Rucksäcke verpacken werden.


Die nächste Zeit sitzen wir vor der Kathedrale und beobachten Menschen, die erschöpft aber glücklich zu Fuß oder mit dem Fahrrad ihren Camino beenden. Die meisten haben einen normalen Gang, anderen merkt man ihre Strapazen deutlich an. Es ist interessant, wie unterschiedlich die Pilger ihr Ankommen begehen. Gruppen stehen im Kreis und singen ein Lied, Fahrradpilger heben für ein Foto ihr Zweirad über den Kopf und wiederum andere präsentieren ihre Pilgerurkunde oder ihren auseinander gefalteten Pilgerausweis. Dazwischen treffen wir wieder einmal auf Monica, die Italienerin. Jörg betätigt sich bei ihr und einer Pilgergruppe als Fotograf für eine Erinnerung an diesen Augenblick. Kurz vor 14:30 Uhr begeben wir uns zum Eingang der Krypta, denn wir haben Tickets, um die sagenhafte Pórtico da Gloria zu besichtigen. Früher betraten die Pilger durch diese die Kathedrale und es gehörte zum Ritual, die Wurzel Jesses zu berühren. Das ist heute leider nicht mehr möglich.


Die Zeit plätschert so dahin und wir gehen noch einmal in Richtung Pilgerbüro, wo wir unser Abendessen einnehmen möchten. Wir finden tatsächlich einen freien Tisch und bestellen uns eine Paella mit Meeresfrüchten, die wirklich vorzüglich ist. Auf dem Rückweg zur Unterkunft stellen wir fest, dass auf der Praza de Obradoiro immer noch viele Menschen stehen, ein größerer Bereich aber abgesperrt ist. Vor der Kathedrale wird von einem italienischen Team ein Film gedreht, den den treffenden Namen „Buen Camino“ trägt, wie auf der Klappe zu lesen ist. Die KI verrät mir, dass tatsächlich ein solcher Film momentan entsteht und im Dezember zumindest in Italien in die Kinos kommt. Zwei Szenen bekommen wir hautnah mit, aber anstatt uns zu bitten, als Statisten mitzuwirken drängt man uns einfach weiter zurück. Dann eben nicht, Regisseur Gennaro Nunziante ist sich sicherlich nicht bewusst, was er mit uns beiden verpasst hat. Wir haben jedenfalls zum Abschluss des Tages ein schönes Erlebnis gehabt und machen uns jetzt endgültig auf zu unseren Zimmern im Seminario Menor.


Nachtrag: Bei unserem Besuch in der Kathedrale hatte ich zwei Kerzen angezündet, eine für meine Familie und eine für Marcel. Am Abend bekam ich von ihm eine Nachricht, unter anderem mit diesem Inhalt: „Heute habe ich eine kleine Wanderung oberhalb von Gavarnie zum Col de Bouchard unternommen, wo ein Weg nach Compostela vorbeiführt. Was für ein Zufall. Gerade als du mir deine Nachricht und das Foto der Kerze geschickt hast...“ 

























Freitag, 10. Oktober 2025

Das ging heute alles sehr schnell

10.10.2025: A Pedreira - Santiago de Compostela (11,9 km)


War das eine ruhige Nacht, ausgeschlafen und meine spricht von einer ausgezeichneten Qualität meines Sleepscores. Was will man noch mehr? Machen wir es kurz: um 7:45 Uhr verlassen Jörg und ich die Unterkunft und machen uns  auf die letzte Etappe unseres gemeinsamen Weges nach Santiago de Compostela. Während uns bei frischen Temperaturen der fast noch volle Mond die Strecke beleuchtet, sehen wir vor uns sich regelmäßig bewegende Lichtkegel einer Taschenlampe. Wir kommen mit der spärlichen Beleuchtung gut zurecht, außerdem dämmert es bereits und am Horizont wird es immer heller. 


Wir sind kaum eine Stunde unterwegs, finden wir nach einem leichten Anstieg entlang einer gut befahrenen Straße vor O Milladoiro den Hinweis auf eine Bar. Dort sitzen schon ein paar andere Pilger und eine ganze „Kompanie“ der Guardiq Civil. Nach der Frühstückspause sind es nur noch rund 7 Kilometer, die wie im Fluge vergehen. Es werden weitere Pilger überholt und die zwei täglich erforderlichen Stempel eingesammelt. In der Ferne sind auch schon die markanten Türme der Kathedrale zu sehen. Anstatt entlang der „langen Meile“ in die Stadt zu laufen, nehmen wir die rechts abzweigende Alternativroute, wo es nicht so hektisch und laut ist. Dann geht alles rasend schnell. Wir überqueren die letzte Kreuzung und gehen durch geschäftige Rúa do Franco. Durch schmale Lücke der eng stehenden Häuser lugt hin und wieder die Spitze eines Turmes der Kathedrale hervor. Links und rechts wird uns eine Kostprobe von Tarte de Santiago angeboten oder in Schaufenstern liegt ein mögliches Mittagessen. 


Um 10:50 Uhr stehen wir jedenfalls auf der Praza de Obradoiro und haben den Caminho Portugues da Costa einschließlich der Variante Espiritual geschafft. Blessuren? Lediglich eine kleine Blase, die ich seit Vigo manchmal gespürt habe, die aber inzwischen ohne weiteres dazutun ausgetrocknet ist. An einem Tag hat sich mal das linke Knie bemerkbar gemacht, dann aber schnell aufgehört. Besonders froh bin ich, dass ich überhaupt keine Probleme mit meinem lädierten Rücken hatte. Dank dem guten Training im Activita bin ich schmerzfrei geblieben. Ach bei Jörg gab es am Ende hin und wieder ein Zwicken im Knie, je nach Bewegung. Damit können wir mehr als zufrieden sein.


Völlig überrascht sind wir, als wir um 11:00 Uhr schon unsere Compostela in der Hand halten. Ich hatte bereits frühzeitig die neuerdings erforderliche Online-Registrierung durchgeführt, sodass wir am Eingang des Pilgerbüros sofort unsere Wartemarken bekommen: die Nummern 266 und 267. Keine zwei Minuten in der Warteschlange werde ich zum Schalter 9 und Jörg zum Schalter 7 aufgerufen. Dort wird der uns nach der Registrierung geschickte QR-Code gescannt, der Pilgerausweis überprüft und die Urkunde ausgedruckt. Fertig! Wir sind begeistert, denn bei unserem letzten gemeinsamen Eintreffen in Santiago 2015 haben wir im alten Pilgerbüro fast zwei Stunden in der Schlange gestanden. Mit uns sind heute übrigens noch weitere 3182 Pilger im Pilgerbüro registriert worden.


Da wir erst um 14:00 Uhr unsere Zimmer im Seminario Menor beziehen können, drehen wir schnell noch eine Runde über die Praza de Obradoiro. Vielleicht treffen wir ja noch ein paar bekannte Gesichter aus den letzen zwei Wochen. Und ja, genauso ist es. Ein Ehepaar, das mit uns in der Herberge in Labruge übernachtete winkt uns zu. Und dann machen sich vor uns von der seitlichen Sitzreihe Kathy und Robin bemerkbar. Wir freuen uns, die beiden zu sehen, setzen uns dazu. Wir bleiben fast zwei Stunden und tauschen uns bei der ein oder anderen Dose Estrella Galicia aus. Auf dem Weg zu frischen Getränken stolpere ich fast über ein Geldstück: auf dem Boden vor der Kathedrale liegt eine 5 Cent-Münze. Ich hebe sie auf und drehe sie um: es ist eine spanische mit der Abbildung der Kathedrale von Santiago. Zufall? Nein. Dann wird es Zeit, in unserer Unterkunft einzuchecken, gegen 15:00 Uhr nehmen wir unsere kleinen, spärlich eingerichteten Zimmer in Beschlag. Zunächst rufe ich bei meinen Eltern an, denn heute bin ich an ihrem 61. Hochzeitstag in Santiago angekommen. 


Nach dem Duschen haben wir Hunger, mehr als zwei Croissants haben wir heute noch nicht gegessen. Nach längerem Suchen finden wir ein Restaurant und bestellen das Pilgermenü bestehend aus Caldo Gallego, einem Pulpo-Garnelen-Spieß, Rinderfilet mit Pommes und Tarta de Santiago. Immer wenn ich in Santiago bin, suche ich nach einer besonderen Muschel, die künstlerisch gestaltet ist, als Belohnung für meinen Camino. Heute habe ich noch nicht danach gesucht, aber ich habe sofort eine tolle gefunden - gleich gegenüber von unserem Tisch sitzt eine Künstlerin, die Muscheln und Steine hübsch verschönert. Eine Muschel in einem Blauton spricht mich schon die ganze Zeit an. Während die Suppe serviert wird, springe ich rüber und kaufe die Muschel. Ich werden zudem gebeten, etwas in ein Büchlein zu schreiben - mache ich gerne. Nach dem Essen bummeln wir noch etwas durch die engen Gassen und stöbern nach Souvenirs. Und wer läuft uns wieder einmal über den Weg: Anne. Schnell noch einmal ein Foto gemacht. Auf dem Heimweg wird es allmählich etwas kühler, aber ein Eis begleitet uns trotzdem zum Ende des Tages.


In meinem Pilgertagebuch von 2015 ist am Ende zu lesen:

Doch wie sagte Jürgen eben zum Abschied:„Du wirst sehen, es ist nicht das letzte Mal. Du kommst wieder."

Ich bin überzeugt, dass er richtig liegt. Irgendetwas von dir bleibt auf der Praza da Obradoiro zurück.

Und irgendwann musst du wieder nach Santiago, es zu suchen und wieder mitzunehmen.


Nach über zehn Jahren sehe ich das ein klein wenig anders. Ja, irgendetwas bleibt auf der Praza de Obradoiro von dir zurück. Du wirst es auch bei jeder Rückkehr nach Santiago wieder finden. Jedes Mal ein klein wenig anders, denn das Leben geht weiter und verändert sich und auch dich. Du nimmst auch nur einen kleinen Teil davon mit nach Hause und lässt den anderen Teil dort. Dieser kleine Teil, den du mitnimmst, bereichert dein Leben, deine Umgebung, dein Tun. Und irgendwann kommt ein Zeitpunkt, wenn du von dem verbliebenen Teil wieder etwas abholen musst. 


















Donnerstag, 9. Oktober 2025

Ein Marathon in einer recht guten Zeit

09.10.2025: Vilanova de Arousa - A Pedreira (43,1 km)


Da war wieder eine Nacht - bis um Mitternacht lief in der Sporthalle, in der die Pilgerherberge untergebracht ist, ein Handballspiel. Es wurde verständlicherweise für die Sportler, störend für uns, recht laut im Spielverlauf. Dennoch habe ich zumindest danach gut und tief geschlafen. Erst kurz nach 6:00 Uhr wird es wieder lebendiger im Schlafsaal. Neben älteren Pilgern, die sich wie wir immer bemühen, sehr leise zu sein, gibt es leider vor allem Jüngere, die sich nicht an die Gepflogenheiten halten. Vor allem einen jungen Mann hat Jörg im Visier, der mal einfach die volle Beleuchtung anmacht. „You‘re not alone“! Schnell geht das Licht wieder aus. Bemerkenswerter aber ist, dass fünfzehn Betten in der Herberge nicht belegt waren. Damit hätten wir nicht gerechnet. Es verbleiben nur wir beide und ein Pilger aus Taiwan, alle anderen sind bereits gegangen.


Na ja, ganz so viele Kilometer wie oben angegeben werden wir nicht zu Fuß zurücklegen. Wir haben uns schon früh für die Translatio entschieden. Darunter versteht man die wundersame Reise des Leichnams des Jakobus nach seiner Hinrichtung in einem Boot von Jerusalem zur Küste von Padrón in Galicien. Einen Abschnitt davon - beginnend in Vilanova de Arousa und endend in Pontecesures - absolvieren wir ebenfalls mit einem Boot. Gegen 8:30 Uhr stechen drei Boote in See, begleitet von viel frischer, kühler Luft und Fahrtwind. Unser Skipper hält unterwegs mehrfach an und gibt uns Erklärungen zu den jeweiligen Orten. Nach etwas über einer Stunde steigen wir in Pontecesures aus und setzen den Weg wie viele andere Pilger sich zu Fuß fort. Gegen 10:30 Uhr treffen wir in Padrón ein. Leider hat das kultige Café Don Pepe 2 wegen Betriebsferien geschlossen - so ein Zettel in der vergitterten Türe. Leider musste ich mir noch am selben Tag erzählen lassen, dass Don Pepe 2 für immer geschlossen ist. Dort hängen an den Wänden alle möglichen und unmöglichen Souvenirs von Pilgern. Ich hätte jetzt meine nicht mehr nutzbaren Camino-Socken dagelassen. So machen wir in einem benachbarten Café unsere Frühstückspause. Leider ist auch die Jakobuskirche nicht zu besuchen, da dort gerade ein Gottesdienst stattfindet.


Wir machen uns nach einer halben Stunde wieder auf dem Camino, und der ist richtig belebt. Wir überholen zwei größere Gruppen, werden aber auch von einer Gruppe spanischer Soldaten stehen gelassen, die mit Gepäck und Waffe unterwegs sind. Jörg und ich kommen gut voran und legen unsere nächste Pause in A Picaraña. Dort sitzen in einer Eck vier Militärpolizisten, die ich neugierig fragte, was die Kameraden hier machen. Schon in Pontecesures haben wir auf einem Sportplatz ein Militärcamp gesehen und zwischendurch auch mal ein Sanitätsfahrzeug. Einer der MPs erklärt mir, dass die Soldaten einen Marsch von Teo nach Santiago de Compostela machen. Das sind rund 120 Kilometer - Respekt. Wir erreichen nun den Punkt, wo ich eigentlich unsere Herberge verortet habe. Allerdings habe ich mich da ein wenig vertan, sie befindet sich tatsächlich erst nach weiteren zwei Kilometern in Richtung Santiago. Das stört uns nicht, verkürzt das doch morgen unseren letzten Abschnitt noch einmal.  


Um 14:15 Uhr erreichen wir dann doch die Albergue Aldea da Pedreira, die erst vier Jahren eröffnet hat. Bei meinem letzten Camino Portugues vor vier Jahren war sie noch nicht da. Im Hof des Anwesens steht zudem ein Foodtruck, der uns und auch vorbeiziehende Pilger versorgt. Uns werden die Einrichtungen gezeigt und wir sind begeistert. Das ist so ziemlich die beste Herberge in diesem Jahr. Duschen, Waschen und einen riesigen, leckeren Burger verdrücken - damit ist der Nachmittag verplant. Ach ja, die reine Entfernung zu Fuß war heute rund 16 Kilometer. Es verbleiben jetzt noch circa 12 Kilometer bis Santiago de Compostela.