Montag, 22. Juli 2024

Es gibt keine Zufälle

23.07.2027: Heimreise

Heute verlassen wir den Camino Frances, es geht nach zwei erlebnisreichen Wochen wieder zurück in die Heimat. Es fühlt sich schon ein wenig leer auf Rücken und Schulter an. Mein Rucksack und ich sind in den vergangenen vierzehn Tagen wieder richtig gute Freunde geworden. Erst im nächsten Jahr werden wir zusammenkommen.

Um sechs Uhr ertönt aus dem Lautsprecher im Flur der Casa Paderborn sanfte Aufwachmusik von Vangelis. Es kommt allmählich Leben in die Bude. Jörg und ich können uns etwas Zeit lassen, denn wir werden unser Frühstück als letzte einnehmen. Es gibt nur zwölf Plätze im Aufenthaltsraum, und es sind dreizehn Personen zum Frühstück angemeldet. Wir haben ja heute keinen Eile, denn unser erster Flug von Pamplona nach Madrid ist für 13:55 Uhr vorgesehen. Die meisten Übernachtungsgäste haben sich schon auf den Weg gemacht, während wir unsere Rucksäcke von Grund auf neu packen. Wir sind beim Frühstück nur noch zu dritt und genießen es. 


Hermann und Karl beginnen schon mit ihren täglichen Aufgaben in der Herberge und verabschieden uns schließlich um kurz nach 8:00 Uhr. Sie bieten uns zwar an, die Rucksäcke später abzuholen, wir möchten aber ihre Abläufe nicht stören. Stattdessen gehen wir durch die allmähliche erwachende Stadt in Richtung Busbahnhof. Es dauert auch nur wenige Augenblicke, bis die Linie 16 erscheint und uns aufnimmt. Es sind lediglich sechs Haltestellen bis zur Rotanda Polígono Noáin-Esquíroz. Dort steigen wir aus und müssen noch ein wenig zu Fuß an einer Zufahrtsstraße zum Flughafen entlanggehen. Eine direkte Busverbindung dorthin gibt es nicht mehr, wahrscheinlich wegen der geringen Anzahl an Flugbewegungen. Allein heute starten noch neben unserem Flug zwei weitere, Landungen sind ebenfalls nur zwei vorgesehen.


Kurz nach 9:00 Uhr kommen wir in der kleinen Abflughalle an und nehmen eine längere Warteposition ein. Wir verkürzen die Zeit mit einem Snack und einem Getränk und warten weiter. Jörg verpackt inzwischen seinen Rucksack mit dreißig Meter Frischhaltefolie. Um 11:00 Uhr dürfen wir endlich unser Gepäck abgeben. Und wieder dauert es eine Weile, bis der Sicherheits-Check öffnet. Mit Blick auf die Rollbahn verfolgen wir per Flightradar die Reise  unserer Maschine, die aus Madrid angeflogen kommt. Unser Flug startet planmäßig um 13:55 Uhr und bereits 38 Minuten später landen wir in Madrid.


Etwas schwieriger wird es mit dem Abschlussflug. Auf dem Abflugtableau wird unser Flug nach Frankfurt zwar angezeigt, aber ohne Gate. Das bleibt auch so bis zehn Minuten vor dem geplanten Boarding. Dann erscheint eine Meldung, dass der Flug um fast eine Stunde verschoben wird. Gleichzeitig trudelt auch eine Mail gleichen Inhalts ein. Leicht verspätet hebt die A320 NEO von Iberia ab und gleitet auf knapp 11.000 m Höhe mit einer Geschwindigkeit von 770 km/h quer durch Frankreich und über die Schweiz nach Frankfurt, wo wir nach nicht ganz 2:20 Stunden um 19:23 Uhr landen. 


Wir müssen über eine halbe Stunde auf unser Gepäck warten und fahren anschließend mit dem Shuttle zum Terminal 1. Jörg und ich verabschieden uns wieder einmal nach zwei harmonischen Wochen auf dem Jakobsweg und freuen uns schon auf die Fortsetzung im kommenden Jahr. Ich bin relativ schnell am Regionalbahnhof und kann dort einen ICE mit Umstieg in Mainz bekommen. Da die Deutsche Bahn mitten in der Urlaubszeit die ICE-Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Köln und Frankfurt zur Erneuerung von siebzig Kilometern Gleis gesperrt hat, kann ich nicht nach Montabaur fahren, wie es eigentlich geplant war. Auf dem Bahnsteig spricht mich eine ältere Frau an und bittet um Hilfe für ihre Verbindung - leider kann sie nur Spanisch. Meine Übersetzungsapp kann da aber gute Dienste leisten. 


Unmittelbar danach werde ich mit meinem Namen angesprochen. Vor mir steht Matthias, den ich bestimmt seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich glaube, zuletzt haben wir uns auf meinem Polterabend gesehen, wo er mit seiner Band gespielt hat. Wir haben uns viel zu erzählen und finden auch die Zeit dazu, denn zumindest bis Koblenz nutzen wir den selben Zug. Die Spanierin nehmen wir unter unsere Obhut, sie will in Köln eine Freundin treffen. 

Was wäre gewesen, 

wenn der Flieger in Madrid pünktlich gestartet oder

das Gepäck früher auf dem Band in Frankfurt angekommen wäre,

wenn wir nicht sofort den Shuttle zum Terminal 1 bekommen hätten oder

die Spanierin auf dem Bahnsteig mich nicht angesprochen hätte?

Die Welt hätte sich zwar weitergedreht, aber Matthias hätte ich nicht getroffen. Das kann kein Zufall gewesen sein.


Um 22:30 Uhr fährt der Zug in den Koblenzer Hauptbahnhof ein und ich werde auf dem Bahnsteig von Susanne empfangen. Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.














Sonntag, 21. Juli 2024

Alleine unterwegs auf dem Camino

21.07.2024: Zubiri - Pamplona  (20,1 km)

Gestern haben wir im Ort mehrere humpelnde Pilger gesehen, die anscheinend muskuläre Probleme oder Blasen an den Füßen hatten. Davon sind wir bisher verschont geblieben. Heute beteiligen wir uns am Wettrennen um freie Betten. Eigentlich wollten wir erst gehen 5:30 Uhr aufstehen und uns fertig machen. Wir sind aber schon eine halbe Stunde früher wach und da macht es keinen Sinn, sich noch einmal umzudrehen. Wir greifen unsere vorbereiteten Päckchen und begeben uns in die Küche im Erdgeschoss. Um 5:40 Uhr stehlen wir uns aus dem Haus und beginnen unsere letzte Etappe für dieses Jahr. Es ist noch dunkel und es fällt zuächst schwer, sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Auf den ersten Kilometern helfen die Taschenlampe des Smartphones und die Stirnlampe eines hinter uns gehenden Engländers, der uns aber bald überholt. Mit zunehmender Dauer erhöht sich die Trittsicherheit, sodass keine zusätzliche Beleuchtung mehr erforderlich ist.


Am einem Magnesiumwerk fehlt eine Markierung, sodass wir zunächst nicht wissen, wo es entlang geht. Dann sehen wir in der Ferne den englischen Leuchtturm und gehen ihm einfach nach. Noch gestern bekam ich von Günter aus der Heimat einen entsprechenden Hinweis zu dieser Stelle. Ein kurzer Anstieg in das noch verschlafene Akerreta und wir setzen erstmals die Rucksäcke für eine Entspannung ab. Es folgt eine schöne Passage unmittelbar am Ufer des Flusses Arga, der uns den Rest des Tages bis Pamplona mehr oder weniger nahe begleiten wird.


In Zuriain (ca km 10) überqueren wir erstmals den Arga und freuen uns, dass hinter der Brücke die Bar La Parada Zuriain gerade um 8:00 Uhr öffnet. Es sitzen sogar schon vier Pilger und nehmen ein Frühstück zu sich. Das machen wir auch und bestellen uns ein Stück Zucchini-Tortilla, die hervorragend schmeckt. Bereits nach einer Viertelstunde sind wir wieder auf dem Camino. Weit und breit sind keine weiteren Pilger zu sehen. Da fragen wir uns schon, wo die vielen von gestern alle sind. Uns begegnen heute nur ein paar Läufer, Mountainbiker und Wanderer. Fünf Kilometer weiter absolvieren wir den letzten Anstieg des Tages und finden auf dem höchsten Punkt einen improvisierten Getränkestand vor. Trotz der kühlen Temperaturen um die 16 Grad ist ein kaltes Getränk jetzt willkommen.


Ein Stück abwärts sind wir wieder am Arga und laufen über eine mittelalterliche Brücke. Dahinter entdecken wir einen Hinweis auf einen Pilgerstempel, der sich tatsächlich im Vorraum der Igreja Trinidad de Arre aus dem 12. Jahrhundert befindet. Jetzt ist nicht mehr weit. Der Weg führt durch zwei weitere ineinander übergehende Gemeinden und endet hinter einer Pferdezucht wieder am Arga. Der Fluss wird mittels sehr niedriger Überquerungshilfen überwunden. Unmittelbar dahinter finden wir die Casa Paderborn vor, die wir gegen 10:45 Uhr erreichen. Netterweise öffnet Hospitalero Herrmann die Tür und wir dürfen schon einmal unsere Rucksäcke in der Herberge abstellen. Bis zur offiziellen Öffnungszeit um 13:00 Uhr schauen wir uns ein wenig in Pamplona um und erkunden den Transportweg zum Flughafen. Ein Besuch in der Kathedrale muss auch sein. Der fällt jedoch knapp aus, da gerade ein Gottesdienst beginnt. Ein Bier später tauchen wir wieder in der Casa Paderborn auf und werden jetzt vom zweiten Hospitalero Karl begrüßt. Nach der Erledigung aller Formalitäten unterhalten wir uns sehr nett, bis die nächsten Pilger kommen. Dann sind die beiden anderweitig beschäftigt.


























Samstag, 20. Juli 2024

Camino Frances nimmt Fahrt auf

20.07.2024: Roncesvalles - Zubiri  (21,9 km)


Gestern war die Albergue von Roncesvalles richtig gut belegt. Die niederländischen Hospitaleros sprachen von 60 Pilgern (so haben Jörg und ich es verstanden), zwei Betten wären noch frei gewesen. Bei einer Kapazität von 183 gemäß dem Internetportal Gronze erschien uns diese Zahl aber deutlich zu gering. Das sehen wir auch heute, es sind sehr viele Menschen unterwegs. Gestern sind z.B. rund 2.000 Pilger in Santiago de Compostela angekommen, das waren vor ein paar Wochen schon mal die Hälfte mehr. Aber da hilft kein Nörgeln, denn wir sind ja selbst auch ein Teil dieser Pilgermasse. Uns beiden  macht es jedenfalls nichts aus.


Nervig ist es allerdings, wenn die ersten für 4:30 Uhr ihren Wecker stellen und beim Packen ihrer Sachen lärmig sind. Und lautes Reden kommt bei allen, die noch nicht bereit zum Aufstehen sind, überhaupt nicht gut an. Vielleicht lernen diese Störenfriede in den kommenden Tagen noch, wie es sich geziemt. Wir sind erst eine gute Stunde später soweit, unsere Siebensachen zu suchen. Auch unsere beiden spanischen Kabinennachbarinnen erwachen aus ihrem Tiefschlaf. Um 6:00 Uhr gehen sämtliche Lichter an und aus den Lautsprechern ertönen gregorianische Gesänge. Zum Frühstück sind wir etwas zu früh dran, das wird in der Casa Sabina ab 7:00 Uhr serviert. Wir sitzen dort mit unseren beiden amerikanischen Pilgern vom Abend zusammen und quatschen wieder viel miteinander. Bereits eine Viertelstunde später stehen wir in den Startlöchern zu unserer vorletzten Etappe in diesem Jahr. Zuvor werfen wir noch einen Blick in die Jakobus-Kapelle aus dem 12. Jahrhundert und posieren für ein Foto an einem Monolithen mit der Entfernungsangabe 755 km bis Santiago.


Wir reihen uns ein die Pilgerschar und durchstreifen zunächst ein Waldgebiet, um danach durch kleinere Städte mit dem typisch baskischen Baustil zu laufen. Die Infrastruktur ist inzwischen richtig gut, es gibt ausreichend Wegweiser und an jeder Ecke findet man Unterkunftsmöglichkeiten oder eine Bar für einen Kaffee oder einen Snack. Wir nutzen das in Espinal nach 6,5 Kilometern, die in rund neunzig Minuten wie im Fluge vergehen. In der Bar Basque Irati trifft man bereits bekannte Gesichter, aber auch sehr viele neue. Es kommt das gewohnte Pilgergefühl auf, und man ist mitten drin.


Es folgt nun eine sehr naturbelassene Passage, mit schattenspendenden Blätterdächern über den Köpfen. Hin und wieder kreuzen wir eine Straße, auf der ständig Radsportler in hohem Tempo an uns vorbeirauschen. Für die Vuelta - die Spanien-Rundfahrt - ist es noch zu früh. Es scheint sich um eine Art Rad-Touristik-Fahrt zu handeln. Wir kommen gut voran und erreichen gegen 10:20 Uhr das Örtchen Gerendiain bei Kilometer 11,5. Dort spricht uns die Taverne El Dragón Peregrino an, wo wir eine längere Pause bei leckerem Craftbier aus der Region und einem Stück Spinat-Quiche einlegen.


So genau haben wir uns heute nicht mit dem Höhenprofil beschäftigt, denn noch im gleichen Ort beginnt eine Steigung, die annähernd so schweißtreibend wie gestern sein wird. Dabei überholen wir mehrere Asiatinnen, die dick verpackt und vermummt wie im tiefsten Winter unterwegs sind. Schließlich erreichen wir den Alto de Erro, wo nicht nur der anscheinend immer dort stehende Foodtruck vorhanden ist. Heute gesellt sich noch ein Verpflegungspunkt für die Radsportler dazu. Obwohl schon das Schlussfahrzeug sowie eine Handvoll Athleten, gibt es für uns Pilger nichts ab. Es folgt zum Abschluss des Tages  ein längerer Abstieg, der sehr anspruchsvoll ist. Durch uralte Verwerfungen des Gesteins wirkt der felsige Untergrund zerfurcht und gleichzeitig nicht ungefährlich. Wir beide gehen sehr vorsichtig aber auch zügig abwärts und treffen gegen 13:35 Uhr in Zobiri ein. Zu unserem Erstaunen haben wir heute mit 818 sogar mehr negative Höhenmeter im Vergleich zu gestern gemacht, das waren „nur“ 588.


Unsere Albergue Secundo Etapa liegt schräg der öffentlichen Herberge. Von der Inhaberin werden wir darauf hingewiesen, dass der nahegelegene Supermarkt in einer halben Stunde schließt. Wir kaufen noch etwas Brot und Salami für heute Abend ein. Nach Überprüfung der Einkehrmöglichkeiten auf der morgigen Strecke ändern wir noch einmal das kulinarische Programm. Heute Abend gehen wir etwas essen und heben uns den Rest für unterwegs auf. Anschließend beziehen wir unsere Vier-Mann-Stube, auf der bereits ein ungarischer Pilger einquartiert wurde. Den Rest des Nachmittags nutzen wir zur Entspannung.


Gegen 16:30 Uhr gehen wir kurz zum Fluss, treffen dort Erik und den Dänen und genießen die Kühle in der leichten Strömung vor der mittelalterlichen Brücke. Danach wollen wir in der Bar Valentin für das Abendessen reservieren. Wir haben Glück, denn die Küche schließt in wenigen Minuten. So kommen wir doch noch den Bauch gefüllt und philosophieren mit Engländern, Iren und Spaniern über die Fußball-EM.