Freitag, 19. Juli 2024

Eine andere Welt über den Wolken

19.07.2024: Saint-Jean-Pied-de-Port - Roncesvalles (25,4 km)

Wir haben unseren Mitbewohnern gestern schon mitgeteilt, dass wir sehr früh die Unterkunft verlassen werden, aber möglichst wenig Lärm machen wollen. Kurz vor 5:00 Uhr sind Jörg und ich wach und gehen ins Erdgeschoss, um alles in die Rucksäcke einzupacken. Wir sind rasch fertig und gerade in dem Moment, als wir starten wollen, drückt uns Sandrine noch ein Päckchen in die Hand. Der Ersatz für das Frühstück besteht aus P-Saft, Croissants, Äpfeln, Eiern und Magdalenas. Damit hätten wir jetzt nicht gerechnet. Wir verabschieden uns von ihr und ihrem Mann und beginnen den heutigen Tag in der Dunkelheit um 5:45 Uhr an der Porte de Saint-Jacques. Es ist ein umwerfendes Gefühl, durch dieses Tor zu gehen, das ich bisher nur aus Videoclips oder Filmen kenne.


Rasch überholen wir vier weitere Pilger, wovon einer einen sehr hoch gestapelten Rucksack mit sich führt und gleich den Namen Hightower zugewiesen bekommt. Zunächst ist die Strecke sehr human, doch an Kilometer 4 geht es erstmals Steil aufwärts bis zur Albergue Hunto. Auf diesem Kilometer müssen wir bereits 150 Höhenmeter bewältigen, die Jörg zu schaffen machen. An der Herberge machen wir einen ersten Stopp. Momentan ist es etwas bedeckt und nebelig bei circa 20 Grad und durchaus drückend. Drückend macht sich auch der Rucksack bemerkbar, der der Schwerkraft folgend lieber nach hinten unten zieht als vorwärts und aufsteigend. Je höher wir kommen, desto dichter wird der Nebel, feinste Tropfen kühlen zwar ein wenig ab, aber durchnässen auch die Oberbekleidung.


Um 8:00 Uhr je erreichen wir nach weiteren 320 Höhenmetern bei Kilometer 7,5 die Albergue Orisson. Jörg ist so durchgeschwitzt, dass er sein Shirt auswringen kann und wechseln muss. Es ist Zeit für ein Frühstück, ein Baguette mit Schonken und Käse erscheint für uns angemessen. Jörg bringt seinen Flüssigkeitshaushalt wieder mit einem Liter Wasser ins Gleichgewicht. Nach vierzig Minuten wird es Zeit, weiterzuziehen. Es dauert jetzt nicht mehr allzu lange, bis sich der Nebel verzieht und die Sonne immer intensiver hervorkommt. Wir durchbrechen die Wolkendecke und tauchen in eine völlig andere Welt ein. Unter schwebt eine dicke Wolkenschicht, über uns strahlt ein blauer Himmel, der nur selten von einzelnen Wolken bevölkert wird. Es herrscht eine angenehme Ruhe, die nur hin und wieder von Vogelgezwitscher und leichtem Wind durchbrochen wird. In der Ferne hört man Kuhglocken, die aber tatsächlich an den Hälsen von Pferden baumeln.


Im 9:30 Uhr erreichen wir bei Kilometer 11,5 einen besonderen Platz. Drei Männer verteilen Bibelsprüche an die Pilger. Einer überlässt Jörg sogar eine Flasche Wasser. Nur wenige Schritte am Hang steht aber auch die Figur der Virgen de Biakorri, eine Mutter Gottes-Statue. Hier habe ich eine besondere Mission zu erfüllen, denn ich habe eine Pilgerfreund versprochen, einen besonderen Stein für einen kürzlich verstorbenen Familienangehörigen auf dem Camino abzulegen. Dieser Ort erschien mir einfach am geeignetsten, um für ihn und seine Familie zu beten. Er möge in Frieden ruhen.


Bei Kilometer 15 erreichen wir den Foodtruck in der Nähe des Cruz de Thibault. Während die meisten Pilger sogar ohne Gruß vorbeiziehen, legen wir eine kurze Pause ein und sind sehr dankbar, hier etwas zu trinken zu bekommen. Einen Stempel für den Pilgerpass gibt es außerdem noch dazu. Hinter dem Kreuz verlassen wir die Straße und biegen steil auf einen Wiesenweg ab, der kurzzeitig von drei Schafen versperrt wird. Schon wieder hören wir Glocken und es sind erneut Pferde, die an der behelfsmäßigen Unterkunft für in Not gekommene Pilger nach Futter suchen. Anschließend geht es etwas flacher durch schattigen Wald, wo wir an der Rolandsquelle vorbeilaufen und die französisch-spanische Grenze überschreiten.


Gegen 12:30 Uhr erreichen wir nach einem letzten Anstieg den Helppoint Lepoeder auf 1435 Meter Höhe und legen eine Trinkpause ein. Wir entscheiden uns hier, anstatt den regulären, aber deutlich schwierigeren Abstieg lieber die Route über den Ibañeta-Pass zu nehmen. Der ist wesentlich einfacher zu bewältigen und nur circa 400 Meter länger. Den Pass nutzte schon Karl der Große, und da wollten wir nicht unbedingt nachstehen. An der Stelle der heutigen Kirche San Salvador existierte früher ein Pilgerhospital. Es geht jetzt nur noch abwärts und um 14:00 Uhr kommen wir nach 25,4 Kilometern in Roncesvalles an. Insgesamt sind wir heute 1389 Meter rauf- und 588 Meter runtergelaufen.


Wir werden von den niederländischen Hospitaleros aufgenommen und beziehen erschöpft aber glücklich unsere zugewiesene Kabine, in der vier Pilger Platz finden. Nach dem Duschen bringen wir unsere Wäsche weg, die in circa neunzig Minuten fertig sein wird. Die Zeit nutzen wir für die Zufuhr von Elektrolyten. Auf dem Weg zur Bar treffen wir Erik und den Dänen, die nicht viel später als wir in Roncesvalles eingeplant. Ich bin sehr froh, dass für Flüssigkeitszufuhr in Form von Estrella Galicia erfolgen kann. Einen „kleinen“ Snack gibt es auch noch dazu - ein Baguette mit Tintenfischstäbchen. 


Anschließend wollen wir die gewaschenen Sachen abholen, da kommt gerade ein Spanier in den Wäscheraum und beschwert sich, er habe die falschen Kleidungsstücke bekommen. Es sind natürlich unsere, die wir ihm gerne abnehmen. Nach dem Abendessen - wir sitzen mit zwei Amerikanern aus Florida zusammen - nehmen wir noch am Gottesdienst mit Pilgersegen teil.


Wichtige Erkenntnis des Tages: mit dem Grenzübertritt hat sich der Preis für ein großes Bier nahezu halbiert.

































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